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Die Grande Nation und der Fall Google

Avatar of Student/in Student/in | 03. Mai 2023 | Bibliotheken | International, Lesestoff



Lesesaal der französischen Nationalbibliothek

„Wir befinden uns im Jahr 2005 n. Chr. Ganz Gallien ist von den Amerikanern besetzt... Ganz Gallien? Nein! Eine von unbeugsamen Galliern bevölkerte Nationalbibliothek hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.“ So oder so ähnlich klang so mancher Bericht, als Mitte der 2000er in Frankreich auf einmal ein Thema in den Schlagzeilen war, das auf den ersten Blick nicht wie ein großer Aufmacher wirken mag: die Digitalisierungspolitik europäischer Bibliotheken. Doch um dieses Thema entspann sich ein Streit, in dem es um Grundsätzliches ging. Aber von Anfang an…

 

Wie alles begann: Googles Ankündigung

Im Oktober 2004 machte Google auf der Frankfurter Buchmesse eine Ankündigung, die für viel Auf-sehen und mediale Aufmerksamkeit sorgte. Das Unternehmen verkündete den Start eines neuen Massendigitalisierungsprojekts und der Plattform Google Books. Dafür hatte Google zunächst über sein Partner Program Partnerschaften mit verschiedenen Verlagen geschlossen, die Nutzenden über Google Books Einblicke in ihre Medien gewähren und sie über eine Verlinkung zu entsprechenden Kaufplattformen zum Erwerb anbieten konnten.

Eine zweite Quelle für Inhalte auf Google Books war das Library Project, aus dem sich im Bibliothekswesen besonders kontroverse Diskussionen ergaben: Google hatte bereits die ersten Verträge mit fünf großen Bibliotheken im US-amerikanischen und britischen Raum geschlossen, um große Mengen an Medien aus deren Beständen zu digitalisieren und über die Google-Plattform kostenfrei anzubieten. Die intransparenten Verträge, die der Geheimhaltung unterlagen, nährten die Diskussionen umso mehr. Dennoch taten sich in den folgenden Monaten (und später Jahren) immer mehr Bibliotheken, auch in Europa, mit Google zusammen.

 

Jean-Noël Jeanneney: Aux armes, citoyens!

In Europa tat sich insbesondere der damalige Präsident der französischen Nationalbibliothek, Jean-Noël Jeanneney, als scharfer Kritiker des Google-Books-Projekts hervor. In einem Zeitungsartikel in Le Monde und einem wenig später veröffentlichten Essay, beide mit dem Titel Quand Google défie l’Europe, positionierte er sich sehr deutlich gegen Kooperationen zwischen Bibliotheken und Google und befürwortete eine europäische digitale Bibliothek als Gegenentwurf zu Googles kommerziellem Angebot, die mit Europeana in den darauffolgenden Jahren auch umgesetzt wurde.

Jeanneney war kein Gegner der Digitalisierung per se: Die französische Nationalbibliothek hatte bereits mit Beginn der 90er Jahre erste Digitalisierungsprojekte mit urheberrechtsfreien Werken gestartet und die Datenbank Gallica für digitale Medien in ihrem Bestand aufgebaut. Den Ausbau von Gallica, das als „bibliothèque virtuelle de l'honnête homme“, also als digitale Bibliothek des anständigen Menschen beworben wurde, hatte auch Jeanneney in seinen Amtszeiten als Präsident der Nationalbibliothek weiter vorangetrieben. Seine Ablehnung richtete sich vielmehr gegen die seiner Meinung nach wahllose Massendigitalisierung einerseits und die Kooperation mit einem privatwirtschaftlichen Unternehmen wie Google andererseits.

Logo der Datenbank Gallica

Unter seiner Leitung wurde bei der Digitalisierung der Fokus hauptsächlich auf die sorgfältige Auswahl der zu digitalisierenden Werke gelegt, um besondere Schmuckstücke oder Sammlungen zu verschiedenen Themen online auszustellen. Anstelle einer möglichst allumfassenden Sammlung sah Jeanneney es als Aufgabe der Bibliothek, den Nutzenden einen sprichwörtlichen Ariadnefaden an die Hand zu geben und die angebotenen digitalen Inhalte möglichst gut zu kontextualisieren.

Ein deutlich schwerwiegenderes Problem sah Jeanneney in der Tatsache, dass Google ein Privatunternehmen ist – und zu allem Übel auch noch ein US-amerikanisches.

Letzteres veranlasste ihn zu der Befürchtung, dass die Inhalte in Google Books, nicht zuletzt durch die Auswahl US-amerikanischer und britischer Partnerbibliotheken, hauptsächlich englischsprachig sein bzw. mit einer entsprechenden kulturellen Prägung einhergehen könnten. Für Werke aus anderen Sprach- und Kulturräumen sah Jeanneney die Gefahr, in den Beständen auf Google Books unterrepräsentiert zu sein oder durch den Google-Algorithmus benachteiligt zu werden. Er machte damit auf die kulturpolitische Dimension eines solchen Digitalisierungsprojekts aufmerksam, das, ähnlich einem Literaturkanon, in der Auswahl seiner Inhalte und deren Präsentation bestimmte Kulturen und Bevölkerungsgruppen benachteiligen und ausschließen kann, während die meistgelesenen bzw. meistgeklickten Inhalte bevorzugt werden. Die Diversität der europäischen Literatur- und Medienlandschaft sah Jeanneney in Google Books nicht abgebildet und pochte deshalb auf eine eigene europäische Lösung.

Große Skepsis zeigte Jeanneney darüber hinaus gegenüber Googles Gewinnorientierung und spekulierte öffentlich darüber, ob neben den Werken von Proust in Google Books wohl Werbung für Madeleines zu erwarten sei. Er äußerte generelle moralische Bedenken angesichts der Vorstellung, dass ein privatwirtschaftliches Unternehmen Gewinne damit machen könnte, die sorgfältig kuratierten und mit öffentlichen Geldern erworbenen und gepflegten Bestände online zu stellen, und stellte die Frage in den Raum, was mit all den Digitalisaten geschehen werde, falls Google insolvent sei oder sich aus anderen Gründen auflösen müsse. Insgesamt vertrat er die Ansicht, dass insbesondere Bestände des kulturellen Erbes, die einen großen und wichtigen Teil der Bestände der Nationalbibliothek ausmachen, in öffentliche Hand gehören.

 

Bruno Racine: Aufbruch in die schöne neue Welt

Im März 2007 wechselte die Leitung der Bibliothèque nationale de France und Bruno Racine löste Jean-Noël Jeanneney als Präsident ab. Er vertrat in vielen Punkten eine gegensätzliche Meinung zu seinem Vorgänger, dem er zwar einen schönen Schreibstil, aber auch einiges an Polemik und Anti-Amerikanismus attestierte.

Im Umgang mit Google und anderen kommerziellen Unternehmen war Racine pragmatischer eingestellt und forderte Bibliotheken auf, alle Optionen in Betracht zu ziehen – was macht es schon, ein wenig Madeleine-Werbung sehen zu müssen, wenn man dafür jederzeit und kostenfrei Proust genießen kann! Er schlug vor, große Massendigitalisierungsprojekte von Anbietern wie Google erledigen zu lassen, die diese deutlich schneller und günstiger umsetzen könnten, um sich mit bibliothekarischer Expertise den komplexeren Projekten wie der Digitalisierung von fragilen, wertvollen Beständen zu widmen. Auch stand Racine der Massendigitalisierung als solcher weniger skeptisch gegenüber: Statt nur einzelne Werke oder Bereiche auszuwählen und im Kontext eingebettet zu präsentieren, setzte er auf die Digitalisierung möglichst großer Mengen und schuf so z.B. auch Korpora als Grundlage für umfangreiche Forschungsprojekte in den Digital Humanities.

Um das Angebot in Gallica weiter zu vergrößern, arbeitete die Nationalbibliothek unter Racines Leitung außerdem an der Vernetzung mit anderen Bibliotheken und Einrichtungen des kulturellen Erbes, mit denen bei Digitalisierungsvorhaben kooperiert und Daten über OAI-Schnittstellen ausgetauscht wurden. Für einige Digitalisierungsprojekte wurden schließlich tatsächlich sogenannte Public-Private-Partnerships mit kommerziellen Anbietern geschlossen. Eine angebahnte Kooperation mit Google scheiterte jedoch nach Verhandlungsgesprächen, die bereits entsetzte Kommentare von Jeanneney und Zeitungsartikel mit Titeln wie „Google hat gewonnen“ hervorgerufen hatten.

 

Retour vers le futur

2016 übergab Bruno Racine die Leitung der Bibliothèque nationale an Laurence Engel. Mit ihr als Präsidentin wurde die Digitalisierungsstrategie, die Racine geprägt hatte, im Wesentlichen fortgeführt. Es wird weiterhin auf Massendigitalisierung und Kooperationen gesetzt, wobei insbesondere Bestände mit Alleinbesitz im Fokus stehen.

Um zum Schluss nochmal den Bogen zurück zum Anfangszitat zu spannen: Das letzte Papier zur Digitalisierungsstrategie, das von der Nationalbibliothek veröffentlicht wurde, ist interessanterweise als Karte gestaltet, die tatsächlich etwas an die Karte Galliens aus den bekannten Asterixbänden erinnert. Nun scheinen wir allerdings nicht mehr umzingelt und bedroht, sondern die gesamte Landschaft ist Teil eines Digitalisierungsökosystems geworden, das durch Datenströme vernetzt ist. So kann es also auch gehen.

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Quellen:

Jeanneney, Jean-Noël: Quand Google défie l’Europe: plaidoyer pour un sursaut. Paris, Mille et une nuits, 32010

Jeanneney, Jean-Noël; Le Grosnier, Hervé: „Google et la bibliothèque mondiale“. In: Vacarme. Nr. 32, 2005/3, S. 46-50

Racine, Bruno: Google et le nouveau monde. Paris, Perrin, 22011

 

Bildquellen:

Titelbild von Kévin Gachie auf Unsplash
Gallica-Logo von Paris 16 auf Wikimedia Commons - eigenes Werk, gemeinfrei

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