Herzlich Willkommen im Blog! Link zur Hauptseite des Blogs

Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

Herzlich Willkommen im Blog! Link zur Hauptseite des Blogs

Weltkarte




Adventskalender (23): Historiker Heinrich

Avatar of Student/in Student/in | 23. Dezember 2022 | Adventskalender



Eine männliche Gestalt betritt energischen Schrittes die Eingangshalle der Bibliothek. Es ist Historiker Heinrich, der heute, typisch für die kalte Jahreszeit, in dunklem Mantel gehüllt und mit spitzen Lederschuhen anzutreffen ist. Seinen Kopf ziert ein schwarzer Hut in der Bogart-Form - und zwar schräg anliegend! Das ist wichtig, um im Falle einer Ansprache auf das altmodische Erscheinungsbild sein enormes Reservoir an historischem Wissen blitzschnell mit einem Nischenthemenvortrag über die Rolle der amerikanischen Mafia in den 1920er-Jahren unter Beweis zu stellen.

Nachdem er Hut wie Mantel im Schließfach verstaut hat, schreitet Heinrich die Stufen zum Lesesaal hinauf, während er seine Augen am architektonischen Stil des Neobarocks weidet – oder war es Neoklassik? Ab wann spricht man überhaupt von Neoklassik? Welche kunsthistorischen Abgrenzungsmerkmale waren dafür nochmal ausschlaggebend? Hatte er nicht neulich mal einen interessanten Aufsatz darüber gelesen, in dem eine Forschungsdiskussion darüber geführt wird und…

"Haben Sie eine gültige Reservierung?"

"Hmm..., was?"  (Wo - in Caesars Namen - befindet er sich grad eigentlich?)

*entnervter Seufzer der Bibliothekarin*

"Haben Sie eine Sitzplatz-Reservierung für den Lesesaal über die Online-Plattform auf unserer Website getätigt?"

Ach ja, richtig, jetzt fällt es ihm wie Schuppen vor den Augen: Heinrich steht schon längst inmitten der Einlasskontrolle zum Lesesaal für alte Bücher! Ja, ja, gedankliche Zerstreuung, die Geißel eines jeden Historikers. Als wäre es nicht schon schlimm genug, sich mit dem eigenen Gedächtnis rumzuschlagen, ist er in der misslichen Lage, zusätzlich noch die Erinnerungslast der gesamten Menschheit auf seiner total überladenen biologischen Festplatte zu speichern. Seit wann gibt es eigentlich Festplatten? Wer hat sie erfunden und welche Faktoren führten zu... Nein, nein, nein! Genug der Abschweifung! Abmarsch, zurück in die Zukunft! Oder wohl eher die Gegenwart: Ausweise werden gezückt, Benutzerdaten abgeglichen und 15 energische Schritte später wird der Arbeitsplatz durch das zeremonienartige Abstellen von Laptop, Notizblock und Schreibgerät für den Rest des Tages annektiert.

Nachdem Heinrich sich einen uralten Zeitschriftenband aus dem Jahr 1897 aus dem Regal gezogen hat, in welchem DER grundlegende Aufsatz für sein Hausarbeitsthema verborgen liegt, setzt er sich mit großer Motivation an seinen Platz. Ehrfürchtig betrachtet er das vor ihm liegende Exemplar, das bereits Generationen von Studenten vor ihm mit mehr oder weniger Eifer gelesen haben - eine Nutzungschronik, die sich bis in die Tage des deutschen Kaiserreichs zurückverfolgen lässt. Sanft beginnt Heinrich, über den zerschlissenen Einband zu streichen und ihn behutsam auszuklappen; dabei blättert er einzeln jede vergilbte Seite mit einer hingebungsvollen Zärtlichkeit um, auf die nicht mal seine Freundin Margarete hoffen darf. Gedankenversunken starrt Heinrich auf die gotischen Buchstaben, in deren Botschaft er sich verliert, bis ihn der Vibrationsalarm seines Handys an die Mittagspause erinnert.

Also, ab ins Bibliotheks-Cafe! Dort wird sich mit Kommilitonen bei Kaffee und Brotzeit über die neuesten, historisch inspirierten Serien-Trends auf Netflix unterhalten. Mittels einer schier endlosen Reihe an Vorträgen, welche die mangelnde historische Korrektheit in allen erdenklichen Belangen beanstanden, schafft Heinrich es erfolgreich, jedem der anwesenden Teilnehmer den Spaß am Binge-Watching zu vermiesen. Ernüchtert und desillusioniert verabschiedet man sich von ihm und jeder geht seiner Wege.

Selbst schuld - denkt sich Heinrich, während er leicht verärgert die Treppe hinuntergeht. Wenn doch nur jeder so anspruchsvoll wäre wie er - dann gäbe es im Medienregal der Bibliothek auch DVDs mit anständigen Filmen auszuleihen, in denen Spartaner tatsächlich mal als Phalanx in voller Rüstung kämpfen, anstatt sich mit überdefinierten Bauchmuskeln flexend in völlig inkorrekte Einzelkämpfe zu verstricken. Geschichte ist kein Spaß – aus Geschichte lernt man! Oder soll die Menschheit dazu verdammt sein, bis an ihr Lebensende dieselben Fehler zu wiederholen? Und überhaupt, wo käme man denn dahin, wenn alles historisch Gesicherte in seiner Darstellung dem Kommerz untergeordnet werden würde, denn schließlich…

*Vollbremsung eines Fahrrads*

"Passen Sie doch gefälligst auf!" (Huch - ein Radfahrer!)

"Entschuldigung, ich..."

*Flüche/Schimpfwörter*

Augenblick mal?!! Warum ist es hier so kalt? Und warum steht er inmitten auf dem Radweg vor dem Gebäude? Wollte Heinrich nicht eigentlich zurück in den Lesesaal?

 

Vielleicht wäre es doch mal wieder an der Zeit, den Blick auf die Gegenwart zu lenken...

 

Keine Kommentare mehr möglich!

0 Kommentar(e)