Wenn sich die Gänge der Stadtbücherei so schnell leeren wie eine Westernstadt um zwölf Uhr mittags, dann kann das im Grunde nur eines bedeuten: Sina Sirene ist wieder da.

Ob aus Verzweiflung, Wut oder Überforderung – für Sina Sirene gibt es immer einen Grund, ihrem Namen durch massive Lautstärke und eine nahezu unerträglich hohe Sendefrequenz gerecht zu werden:

Mama gibt der Bücherfrau die gerade erst lieb gewonnenen Geschichten (Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken!) einfach so wieder zurück? Nein, nein, nein!
Ein anderes Kind sitzt auf dem rot-gestreiften Kissen mit den zerfledderten Fransen in der Ecke, wo das Plakat mit dem wütenden Einhorn hängt? Stampf, kreisch, heul!
Das Spiel mit dem Ritter und der großen Burg auf der Verpackung soll angeblich nur für ältere Kinder sein? Gemeinheit!
Das Buch, das so ganz anders riecht als all die anderen, mit dem lila-karierten Langohr-Tier vorn drauf, ist in der Bücherkiste nirgends zu finden? Ich will, ich will, ich will aber!
Eine nichtsahnende Oma hat eben das Musiksteckerdings mit dem blonden, grün angezogenen Jungen und dem Fuchs in ihr Körbchen gelegt, obwohl Papa versprochen hatte, dass es diesmal mitkommt? Fäustetrommeln auf dem Boden, bis sie es hergibt!
Die anderen Leute gucken plötzlich so böse ... Jetzt reicht’s aber endgültig!

Wenn Sina Sirene erst einmal in Fahrt ist, helfen auch die wohlwollendsten Worte und Besänftigungsversuche nicht mehr. Erfahrene Erziehungsberechtigte gehen daher schon mal vorsorglich ein paar Reihen weiter in Deckung und lugen zwischendurch mit einem „Sonst ist sie immer ganz brav“ oder „Wir sind gerade in einer schwierigen Entwicklungsphase“ hinter einem Nepal-Bildband hervor. Gegen die erpresserisch-theatralen Darbietungen, die im Minutentakt zwischen dem trauernden Amos Diggory am Ende des Feuerkelchs und dem hysterisch kreischenden Kind auf der Rückbank in Der Babadook schwanken können, sind sie nämlich mittlerweile immun. Resignation und Eskapismus sind oft die einzige Wahl, das hat auch das Büchereipersonal mittlerweile schmerzlich einsehen müssen.

Einen Vorteil hat die Sache aber auch: Da eh jeder Person, die nicht beruflich oder ehrenamtlich gebunden ist, längst ein dringender Termin eingefallen ist, für den es die Bücherei schleunigst zu verlassen gilt, gibt es dank Sina Sirene garantiert keine Schlange an der Ausleihtheke.