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Von "Volksdialekten" und "Büchersprache" – Martin Schrettingers Sicht aufs Bairische

Avatar of Student/in Student/in | 17. Juni 2022 | Lesestoff



Heute vor genau 250 Jahren, am 17. Juni 1772, wurde Martin Schrettinger in Neumarkt in der Oberpfalz geboren. Der Pionier der deutschen Bibliothekswissenschaft und leitender Bibliothekar an der Münchner Hof- und Zentralbibliothek (heute Bayerische Staatsbibliothek) verbrachte einige Zeit als Mönch im Kloster Weißenohe (Oberfranken), bevor dies im Rahmen der Säkularisierung aufgelöst wurde.

Als Mönch las er aufklärerische Schriften und geriet dabei auch in Konflikt mit dem Abt (mehr darüber übrigens in der virtuellen Ausstellung “Mönch, Rebell, Bibliothekar”).

Im Jahr 1800 schreibt er ein Manuskript “über die Volks-Dialekte als Hinderniß einer zwekmässigen Jugend und Volkserziehung”. Ein Druck bzw. eine Veröffentlichung des Manuskripts ist bis heute nicht nachgewiesen, die Handschrift kam als Teil seines Nachlasses (Schrettingeriana) in die Sammlung der BSB. Dort wurde sie 2020 digitalisiert und ist seitdem übers Internet zugänglich:

https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00135329-8

Interessant ist, dass sich Schrettinger Gedanken zur Bildung des “gemeinen Volks” gemacht hat und diese zu Papier gebracht hat. Im Zuge dessen hat er Unterschiede zwischen den bairischen Dialekten und der “Büchersprache” festgestellt, ja auch zwischen den Dialekten. Schrettinger geht sogar so weit, das zu demonstrieren, indem er eine Passage** sowohl in bairischer als auch oberpfälzischer Übersetzung widergibt.

Hier eine Kostprobe, transkribiert aus dem Digitalisat:

(zunächst die schriftdeutsche Version:)

Im Herzogtum Bayern sind die Höfe der meisten Bauern sehr unreinlich. Viele haben die Mistlachen gerad vor den Fenstern, und müssen auf Brettern über dieselbe in das Haus gehen. Die Dächer sind mit grossen Steinen belegt, damit der Wind die Schindeln nicht weg führt; welches er dort oft thut. Auch reiche Bauern bleiben bey dieser schlechten Bauart, die sie einmahl gewohnt sind. Fressen und saufen können die Bayerschen Bauern meisterlich, und dabey geht es selten ohne Schlägerey ab. Die Herrschaften sehen aber solchem Unfuge gern durch die Finger : weil sie die Brauerey haben, und desto mehr Bier verkaufen, wenn es recht toll zugeht. Das Bayersche Bier ist auch vortrefflich. Sonst sind die Bayern ehrliche und offenherzige Leute, die nicht heucheln und schmeicheln.

Bajerische Uibersezung

Im Boarlånd sann dö mearan Baurnhöf gwoidi schlåmpat. Vöi håmmat d’Mistlåka grod vorn Fenstan, und müassn auf Brödan drüba-r-ins Haus göñ. *) Dö Dacha sannd mit grossn Stoañn übalegt, dåss da Wind d’Schindeln nöt wökfüahrt; a thuats oba-r-oft oanawök. Sogor dö reichng Baurn bleibm bei deara miserabln Bauårt, dö s’amoi g’woñt sannt. Frössn und sauffa kinnat dö boarischn Baurn aus da Kunst, dabei göhts oba söitn ohnö Raufereian o. Dö Herrschåftn schaugng oba bei den Handln gern dur d’Finga: wai sö Bruihäusa håmmat, und dösta mea Bia vokauffat, wenns rächt drunta-r-und drüba geht. ‘S boarischö  Bia-r-is oba-ra-ra Bia dös Hånns koaft. In übringa sann dö Boarn öhrlichö aufrichtigö Leut, dö nöt vöi fuchsschwanzn.

*) [Anmerkung von Schrettinger:] Das Zeichen ~ [im Manuskript ein Halbkreis] bedeutet, daß das n nach französischer Art durch die Nase ausgesprochen wird.

Oberpfälzische Uibersezung

In Boialånd san di moistn Bauanhöf goa so schlåmpat. Vil hobm d’Odlhüll grod voan Fenstan, und möin af Brettan drüba-r-is Haus göiñ. Am Dachan hobms gråissi Stoin, dass da Wind d’Schinln niat davoñwaht; oft gschichts oba denna. Sogoa di reichng Bauan bleibm ba deara elendinga Bauoart, wal sis schouñ gwohnt san. Fressn und saffa kina di bojarischn Bauan moistadli, und daba sezts moistnthols Schleg o. D’Herrschaftn schaua-r-oba ba settan Schtenkareian gean duarch d’Finga, wals Bräuhäusa hobm und afta möia Böia voschleissn, wenns reat übadrüba göit. ‘S bojarisch Böia-r-is oba-r-a-r-a gscheits Böia. Sist san d’Boian redlichi und africhtige Leut, döi si niat vostelln und koan Kåzabugl måcha.

 

Das “Bairische” Schrettingers orientiert sich klar am Mittelbairischen, dem Art Bairisch, wie es in Südbayern (mehr oder weniger südlich der Donau) gesprochen wird. Auch das Oberpfälzisch (bzw. Nordbairisch für Dialektologen) ist durch Wörter wie “Stoi” (Stein) und “af/saffa” (auf/saufen) erkennbar. Schwieriger ist es aber, den nachgeahmten Dialekt genauer zu bestimmen. Schrettinger wurde ja in Neumarkt in der Oberpfalz geboren, sein Kloster Weißenohe gehörte damals auch zur Oberpfalz. Ob er seinen eigenen Dialekt oder den seiner Klosterbrüder als Vorlage nahm?

Die erkennbaren Dialektzüge sind jedenfalls miteinander kombiniert alles Andere als eindeutig. Womöglich handelt es sich auch um eine Mischform bzw. künstliches “Allgemein-Bairisch”/”Allgemein-Oberpfälzisch”.

Wie der Titel seiner Schrift schon erahnen lässt, kommen die Dialekte aber bei ihm nicht gut weg. Sie sind “Hinderniß” einer guten Erziehung, Dialekte sieht Schrettinger als “falsche” Aussprache und Verwendung der Schriftsprache. Auch die Auswahl der Passage spricht Bände darüber, was Schrettinger über seine Landsleute denkt.

Gleichzeitig erkennt er die Unterschiede zwischen Dialekt und Schriftsprache, die die Dialekte wie eigene Sprachen erscheinen lassen. So benutzt er für seine bairischen Übersetzungen eigene Buchstaben wie das “å” (verdumpftes a, das wie “ein englisches o” ausgesprochen werde). Auf diese Weise bildet er Vokale und Nasale ab, die in der deutschen “Büchersprache” nicht existieren. Er überlegt sogar, ob es zu empfehlen ist, dass bairische “Muttersprachler” Schriftdeutsch wie eine Fremdsprache erlernen.

Wie sich sein Verhältnis zum Dialekt im weiteren Bibliothekarsleben entwickelt, ist nicht bekannt. Mit Schrift und Sprache beschäftigt er sich aber weiterhin. In seinem Nachlass ist ebenfalls ein arabisches Alphabet (Schrettingeriana 13) erhalten, das noch seiner Digitalisierung entgegen sieht.

 


** Die Passage stammt aus Rudolf Zacharias Beckers “Noth- und Hülfs-Büchlein” von 1790.  Dort wird als Autor der Passage wiederum Wilhelm Denker genannt, ein Pseudonym des evangelischen Theologen Johann Ferdinand Schlez.

(Bildnachweis: Schrettinger, Martin: Nachlass von Martin Schrettinger (1772-1851) – Schrettingeriana. 12: Nachlass von Martin Schrettinger (1772-1851): Über Volksdialekte – BSB, S. 25, Digitalisat, Creative Commons CC-BY-NC-SA)

(ag)

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