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Adventskalender (16): Viktor Matejka und die Häftlingsbibliothek des KZ Dachau

Avatar of Student/in Student/in | 16. Dezember 2021 | Adventskalender



Es dürfte zu den weniger bekannten Fakten über die nationalsozialistischen Konzentrationslager gehören, dass es selbst an diesen Orten der Entmenschlichung und Gewalt mitunter gut ausgestattete Bibliotheken gab, die von den Häftlingen in ihrer Freizeit benutzt werden konnten. Eine der größten derartigen Häftlingsbibliotheken existierte im Konzentrationslager Dachau durchgängig von Herbst 1933 bis zur Befreiung des Lagers im April 1945. Ausgehend von einer Bücherspende der katholischen Volksbibliothek Dachau wuchs der Bibliotheksbestand bis Kriegsende 1945 auf eine geschätzte Größe von etwa 15 000 bis 18 000 Bänden an. Er enthielt neben Unterhaltungsliteratur auch Sach- und Fachliteratur aus verschiedensten Bereichen. Den für die Verwaltung der Bibliothek zuständigen Häftlingen gelang es in kleinerem Umfang sogar, fremdsprachige Literatur für ausländische Häftlinge bereitzustellen, als deren Zahl in Dachau mit Beginn des Zweiten Weltkriegs sprunghaft anstieg. Geradezu unvorstellbar erscheint die Tatsache, dass sich im Bestand der Bibliothek in nennenswerter Anzahl auch Werke von Autoren befanden, die von der Reichsschrifttumskammer auf der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums geführt und auf dieser Grundlage in den von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten eigentlich systematisch verboten, beschlagnahmt und vernichtet wurden.

Dass es in Dachau eine derartig große und thematisch breit ausgestattete Bibliothek gab, war in erster Linie dem Engagement der zuständigen Häftlingsbibliothekare zu verdanken. Sie wirkten oftmals auf ihre Mitgefangenen ein, für die Bibliothek zu spenden, wenn diese von ihren Angehörigen Bücher oder Geld zugeschickt bekommen hatten. Sie erbaten Buchspenden von Verlagen, Kirchen und karitativen Einrichtungen. Und sie schafften es auf vielfältige Weise und oftmals unter großem persönlichen Risiko, regelmäßig Bücher in die Bibliothek zu schmuggeln. Viele Bücher stammten beispielsweise aus der Effektenkammer des KZ Dachau. Dort wurden die persönlichen Gegenstände der Häftlinge aufbewahrt, nachdem ihnen diese bei der Einlieferung ins Lager abgenommen worden waren. Die lagereigene Buchbinderei, wo im Auftrag der SS beschädigte Bücher repariert wurden, konnte ebenfalls genutzt werden, um interessante gegen weniger interessante Titel auszutauschen. Das Wachpersonal kontrollierte in der Regel nur, ob genauso viele Bücher das Lager wieder verließen, wie ursprünglich angeliefert worden waren. Insbesondere die Titel verbotener Autoren gelangten auf diesen und ähnlichen Wegen in den Bestand der Lagerbibliothek.

Als ein geschickter Beschaffer und Organisator neuer Bücher galt der österreichische Kulturpolitiker, Schriftsteller und Publizist Viktor Matejka (1901-1993), der zeitweise in der Häftlingsbibliothek des KZ Dachau eingesetzt wurde. Matejka hatte sich in den 1930er Jahren unter anderem als Bildungsreferent der Arbeiterkammer Wien eindeutig für Pazifismus, die Unabhängigkeit Österreichs und gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen. Seine Verhaftung und Deportation nach Dachau erfolgten unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938. An die Stelle in der Häftlingsbibliothek kam Matejka vermutlich als eine Art Auszubildender. Nach dem Willen der SS sollte er in Dachau die nötigen Erfahrungen sammeln, um später beim Aufbau der Lagerbibliothek im KZ Natzweiler-Struthof eingesetzt zu werden. Dazu kam es jedoch nie. Stattdessen wurde er in Dachau später als Schreiber des SS-Schulungsleiters eingesetzt. Nach seiner Entlassung aus der Lagerhaft 1944 verbrachte Viktor Matejka die letzten Kriegsmonate untergetaucht in Wien und arbeitete anschließend bis zu seiner Pensionierung 1966 in verschiedenen Positionen für die KPÖ.

Karteikarte für Viktor Matejka aus der Häftlingsschreibstube des KZ Dachau (Arolsen Archives, CC BY-SA 4.0)

Matejkas Interesse galt seit jeher der Volksbildung. Dementsprechend versuchte er, seine Position in der Dachauer Lagerbibliothek dafür zu nutzen, seine Mitgefangenen zum Lesen und zum kritischen Reflektieren anzuregen. Regelmäßig brachte Matejka abends ganze Bücherstapel mit in die Baracken, damit auch diejenigen Zugang zu Literatur erhielten, die keine Möglichkeit hatten, die Bibliothek zu ihren Öffnungszeiten aufzusuchen. Zusammen mit anderen Häftlingen organisierte er Diskussionsrunden, Lesezirkel oder Theateraufführungen. Zudem sammelte er über seine gesamte Lagerzeit hinweg Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, die er wiederum zu thematischen Leseheften für seine Mitgefangenen zusammenstellte. Insgesamt fertigte Matejka in Dachau etwa 20 dieser sogenannten Pick-Bücher (von picken = (ein)kleben) an. Einige haben sich auch für die Nachwelt erhalten. Matejka stellte darin Veröffentlichungen von NS-Parteiorganen zumeist literarische Texte aus verschiedensten Quellen gegenüber. Nach außen zunächst unauffällig, waren die Pick-Bücher inhaltlich dennoch so konzipiert, dass sie bei kritischer Betrachtung das NS-Gedankengut zielsicher konterkarierten und dessen Widersprüchlichkeit herausstellten. Dies entsprach ganz Matejkas Überzeugung, dass eine wirkliche Auseinandersetzung und Widerlegung des NS-Gedankengutes nur dann erfolgreich sein könne, wenn man die entsprechenden Veröffentlichungen auch kritisch gelesen habe.

Vieles von dem, was Viktor Matejka und seine Bibliothekskollegen taten, konnte nur im Geheimen und Verborgenen ablaufen und hätte schwere Strafen nach sich gezogen, wenn es von der Lager-SS bemerkt worden wäre. Die Häftlingsbibliothek des KZ Dachau kann daher mit gutem Recht als ein Hort des Widerstands innerhalb des Konzentrationslagers bezeichnet werden. Dies trifft insbesondere auf die Zeitspanne zu, als der spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher die Bibliotheksleitung innehatte. Man sollte sich jedoch auch stets vor Augen halten, dass viele Häftlinge die Bibliothek überhaupt nicht nutzen konnten. Jüdische Häftlinge sowie Insassen des Strafblocks waren grundsätzlich von der Benutzung ausgeschlossen. Und ein Großteil der anderen Häftlinge verschwendete angesichts der alltäglichen Gewalterfahrungen, Mangelernährung, körperlichen Ausbeutung und des permanenten psychischen Drucks vermutlich ebenfalls kaum einen Gedanken an Bücher und Literatur. Zu den regelmäßigen Benutzern der Bibliothek gehörten letztlich überwiegend Häftlinge, die innerhalb der Lagerhierarchie höhergestellte Positionen mit entsprechenden Freiheiten bekleideten oder das Glück hatten, im Lagerinnendienst leichtere Arbeiten verrichten zu können. Von denjenigen jedoch, die die Bibliothek wirklich nutzen konnten, unterstrichen nach dem Krieg viele den immensen Wert, den das Lesen, das Diskutieren und das Hinterfragen für ihre Psyche und ihren Durchhaltewillen hatten. Und wenn es nur darum ging, dem Grauen des Lageralltags für wenige Minuten geistig entfliehen zu können.

Kommandanturvermerk zur Nutzung von Büchern aus der Häftlingsbibliothek des KZ Dachau. Dieser Zettel war in alle Bücher eingeklebt. (Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte Dachau, Foto des Verfassers)

Warum die SS Bibliotheken in einigen Konzentrationslagern duldete, ist in der Forschung umstritten. Sicher scheinen jedoch zwei Punkte: zum einen, dass die Initiative zur Errichtung von Häftlingsbibliotheken in der Regel von den Häftlingen selbst ausging und dem Vorbild anderer deutscher Justizvollzugseinrichtungen folgte. Dort waren Bibliotheken seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend etabliert, um den Inhaftierten eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu ermöglichen und bestenfalls zu einer Wesensänderung beizutragen. Und zum anderen, dass die Bibliotheken für die Lagerverwaltungen willkommene Propagandamittel waren, um Besuchergruppen wie auch der deutschen und internationalen Öffentlichkeit ein Bild der Konzentrationslager vorzugaukeln, das mit der Realität wenig zu tun hatte. Welche Gründe auch immer ausschlaggebend waren. Für die Häftlinge zählte, dass es eine Bibliothek gab und nicht, warum es sie gab. Oder in den Worten von Viktor Matejka: „Es ist wurscht, ob die Lagerbücherei von der SS her eine Alibifunktion für Besucher hatte. Wesentlich ist, was die Häftlinge, im besondere die Büchereileitung, aus der Bücherei machten“ (zitiert nach: Exenberger: Bibliothekar im KZ Dachau, S. 37).

 

[jb]

 

Zum Weiterlesen:

Exenberger, Herbert: Bibliothekar im KZ Dachau, in: Franz Richard Reiter (Hrsg.): Wer war Viktor Matejka?, Wien 1994 (=Dokumente, Berichte, Analysen 7), S. 34-47.

Kabelka, Werner: Die Häftlingsbibliothek des Konzentrationslagers Dachau (1933-1945). Daten, Fakten, Personen, Saarbrücken 2008.

Köper, Carmen Renate: Zwischen Emigration und KZ. Fünf Leben: Hermann Langbein, Viktor Matejka, Bernhard Littwack, Karl Paryla, Trude Simonsohn, Wien 2008, v.a. S. 65-73.

Matejka, Viktor: Widerstand ist alles. Notizen eines Unorthodoxen, 3. Aufl. Wien 1993, v.a. S. 89-93 u. 108-119.

Seela, Torsten: Bücher und Bibliotheken in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Das gedruckte Wort im antifaschistischen Widerstand der Häftlinge, München 1992.

Ders.: Die Lagerbücherei im Konzentrationslager Dachau, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Solidarität und Widerstand, München 1995 (= Dachauer Hefte 7), S. 34-46.

Wollenberg, Jörg: Viktor Matejka und Kurt Schumacher als Häftlingsbibliothekare in Dachau und Flossenbürg, in: Spurensuche 16 (2005), S. 37-53.

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4 Kommentar(e)

Name |

17. Dezember 2021

Klasse Artikel! Solche dieser Art sollte es auf diesem Blog öfter geben.


mb |

17. Dezember 2021

Einer der besten Artikel, den wir jemals auf dem Blog hatten. Vielen Dank!


Studentin |

16. Dezember 2021

Auch von mir vielen Dank für den bemerkenswerten Artikel!


Studentin |

16. Dezember 2021

Wahnsinn! Das es Häftlingsbibliotheken in Konzentrationslagern gab, war mir überhaupt nicht klar. Dankeschön für diesen unglaublich interessanten Artikel!