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Melvil Dewey – Superstar, Sexist, Antisemit

Avatar of Student/in Student/in | 07. März 2021 | Bibliotheken | International, Fachliches



Melvil Dewey – Superstar, Sexist, Antisemit

2019 brachte Sherre L. Harrington, Direktorin der Berry College's Memorial Library, bei der jährlichen Konferenz der American Library Association (ALA) eine Resolution ein. Der Antrag der Resolution: Die Melvil-Dewey-Medaille, die höchste Auszeichnung der ALA, benannt nach Melvil Dewey, Mitbegründer der ALA und prominentester Bibliothekar in der Geschichte der USA, sollte umbenannt werden. Es sei nicht mehr länger tragbar, den Namen Dewey mit dieser höchsten Auszeichnung zu verbinden. Was war geschehen?

Denn selten hat jemand im Bibliothekswesen so viel gleichzeitig erreicht und an dauerhaften Innovationen hervorgebracht wie Melvil Dewey (1851-1931), der am 10. Dezember vor 170 Jahren geboren wurde. Um das zu verstehen, müssen wir zurück auf den Anfang:

Im Staat New York geboren und aufgewachsen, begann Dewey am Amherst College in Massachusetts zu studieren, wo er unzufrieden war mit dem seiner Meinung nach unzureichenden Bestand für eine Hochschulbibliothek. Auch die häufig in Bibliotheken praktizierte alphabetische Aufstellung missfiel ihm, wäre doch eine systematische Aufstellung viel besser geeignet, um ein Buch zu einem Thema zu finden. So schuf er binnen kurzer Zeit seine eigene Aufstellungssystematik – die Dewey Decimal Classification (DDC) – die er sich gleich mal rechtlich schützen ließ. Die DDC ist bis heute die meistverbreitetste bibliothekarische Klassifikation weltweit.

Im Alter von nur 24 Jahren gründete er die American Library Association (ALA), und wurde deren erster Sekretär, später sogar Präsident der Vereinigung. Außerdem gründete er im selben Jahr die bibliothekarische Fachzeitschrift Library Journal, für die er prominente Autoren wie Charles Cutter (ja genau, der Typ, dem wir die Cutterung mit zu verdanken haben!) gewinnen konnte.

1883 wurde er Bibliothekar am Columbia College und gründete dort die erste Bibliothekarsschule überhaupt, um bibliothekarischen Nachwuchs auszubilden. 1888 wurde er Direktor der New York State Library. Er förderte die Entwicklung des amerikanischen Bibliothekswesens nachhaltig. Was für ein Tausendsassa!

Nebenbei war er übrigens zeitlebends Anhänger des metrischen Systems sowie einer vereinfachten englischen Rechtschreibung, aus diesem Grund schrieb er auch seinen eigenen Vornamen Melville als „Melvil“.

Ein großes Ego hatte er aber auch, er war eher ein autoritärer Kontrollfreak, der sich mit seinen Ideen durchsetzen wollte statt Dinge auszudiskutieren. Groß gestört hat das niemanden, aber sein Image bekam 1905 deutliche Risse:

Dewey hatte schon einige Jahre zuvor den Privatclub Lake Placid Company gegründet, der seinen Mitgliedern am Lake Placid nördlich von New York einen Ort für Wintersport, Erholung und soziale Kontakte zur Verfügung stellte. Dewey war stets inoffizieller Kopf der Clubs, bestimmte die Aufnahmeregeln mit und kaufte für den Club auch Grundstücke am See.

Auch Henry M. Leipziger, ein jüdischer Bibliothekar an der New York Public Library, hatte sich um die Aufnahme in den Club bemüht, wurde jedoch stets mit Ausreden abgewimmelt. 1903 fallen ihm die internen Clubregeln in die Hände, wo er deutlich lesen konnte, dass Juden keinen Zugang zum Club haben. Hier lag also der wahre Grund seiner Ablehnung! Leipziger benachrichtigt den Anwalt Louis Marshall, der weitere Dokumente recherchiert und schließlich eine Petition an den Arbeitgeber Deweys, das Regents Board der New York State University, ins Rollen bringt. Die Mitzeichner der Petition, zahlreiche jüdische Persönlichkeiten aus New York, fordern die Entlassung Deweys als Bibliotheksdirektor. Offener Antisemitismus und zugleich eine hohe öffentliche Position, sowas verträgt sich nicht, so der Tenor.

Im Januar 1905 wird die Affäre öffentlich, die New York Times berichtet in mehreren Artikeln darüber. Melvil Dewey muss sich vor Arbeitgeber und Öffentlichkeit verteidigen, spielt dabei aber das unschuldige Lamm und gibt sich tolerant: „Viele meiner engsten Freunde sind Juden“, schreibt er, „aber die Mehrheit des Clubs hat die Regeln beschlossen und wir haben nicht die Macht, davon abzuweichen“. Dabei sind es Dewey und seine Frau Annie, die den Club faktisch kontrollieren.

Das doppelzüngige Spiel Deweys hat System: in der Öffentlichkeit spielt er den toleranten Bibliotheksdirektor, der nichts für die Clubregeln kann, intern ist der maßgebliche Drahtzieher. Für das Regents Board der New York State University ist die Affäre mehr als peinlich, schließlich ringt man sich zu einem schlechten Kompromiss durch: Dewey wird für sein Verhalten gerügt, behält aber seinen Posten. Er sagt zu, dass die Aufnahmeregeln geändert würden und zieht sich von der Spitze des Clubs formell zurück. Der jüdische Anwalt Marshall sieht es gegenüber der Presse als Erfolg, die Unterzeichner der Petition kritisieren, dass von Dewey kein Wort der Entschuldigung gekommen sei, nur pure Arroganz.

Nur wenige Monate später lässt Dewey ein Pamphlet zirkulieren, in welchem er im Namen des Clubs schreiben lässt, man wolle das Wort „Jude“ in Zukunft in den Aufnahmeregeln vermeiden, behalte sich aber weiterhin das Recht vor, sie auszuschließen. Formell soll es also nach außen so aussehen, als sei es kein Antisemitismus, aber intern soll es weiterhin praktiziert werden.

Der Konflikt lodert wieder auf, Dewey und der Anwalt Marshall mobilisieren ihre Unterstützer und liefern sich darüber ein Fernduell in der Presse. In der New York State University und der ALA ist man zunehmend verstimmt… was wiederum Dewey auf die Nerven geht. Sein Arbeitgeber beginnt erneut laut, aber intern, über einen Rauswurf nachzudenken. Im Laufe des Sommers 1905 beschließt Dewey, von seinem Posten zurückzutreten.

In diesem Sommer nimmt Dewey auch im Anschluss an die jährliche ALA-Konferenz an einem zehntägigen ALA-Ausflug nach Alaska teil, um sich zu erholen. Damit bringt er die nächste Affäre ins Rollen: auf dem Ausflug belästigt er mehrere Bibliothekarinnen, allesamt ALA-Mitglieder, umarmt, küsst und betatscht sie ungeniert in der Öffentlichkeit, gegen deren Willen.

Das Verhalten hatte er sich schon seit Jahren geleistet, und in der Regel ließen die Frauen es über sich ergehen, protestierten nur im Geheimen oder versuchten schlicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Den offenen Konflikt scheuten sie – schließlich war Dewey nun mal DER Star in der amerikanischen Bibliothekslandschaft.

Nach den Vorfällen in Alaska konnten mehrere unter ihnen aber nicht mehr schweigen: Isabel Ely Lord und Mary W. Plummer, angesehene ALA-Mitglieder, sprachen nun offen im Kollegenkreis über die Belästigungen.

Im Sommer 1906 erfährt Dewey, was man sich so unter vorgehaltener Hand über ihn erzählt, er und seine Frau diffamieren die Erzählungen als „Geschwätz“ und „Verschwörung“ („plot“), Dewey sieht sich als „missverstanden“ und „unschuldig“, wie er beteuert.

Nach der ALA-Konferenz 1906, der er sicherheitshalber fern bleibt, erreicht ihn die Meldung, dass vier prominente ALA-Mitgliederinnen gegen ihn aussagen würden, zwei weitere drohen mit Rücktritt, sofern sich Dewey nicht aus der Assoziation, die er selber mitbegründet hat, zurückzieht.

Dewey steht mit dem Rücken zur Wand und kommt der Aufforderung nach. In der ALA nimmt er fortan nicht mehr teil, ist zugleich voller Bitterkeit gegenüber seiner Kollegen, die ihn nicht verteidigt hätten und fühlt sich von der eigenen Assoziation im Stich gelassen. Dass er Fehler gemacht habe, wollte er dagegen immer noch nicht eingestehen.

Nach 1906 widmet er sich ganz dem Leben im Privatclub Lake Placid. Eine weitere Affäre muss er dann 1927 durchstehen: für sein Leben im Club hatte er eine Privat-Stenografin eingestellt, die er mit ungewolltem Küssen und Anfassen belästigt. Die schockierte Stenografin weiß sich nicht anders zu helfen und kündigt ihren Job. Erst sehr viel später bekommt Dewey Post vom Anwalt der Stenografin, der eine Klage androht. Dewey wittert eine Erpressung, ist sich auch hier wieder keiner Schuld bewusst. Erst sein eigener Anwalt bringt ihn dazu, einer außergerichtlichen Einigung zuzustimmen, damit die Sache nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Mit einer Zahlung von 2.147,66 $ ist die Affäre aus der Welt geschafft.

Dewey, ein Kind seiner Zeit? Sexismus und Antisemitismus waren in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts wohl sicher keine Seltenheit, allerdings überschritt Dewey selbst nach damaligen Verhältnissen Grenzen – anders kann man sich kaum erklären, warum er schließlich gezwungen war, seine Posten als Bibliotheksdirektor, Clubpräsident und einflussreicher ALA-Veteran aufzugeben.

Nach seinem Tod 1931 gerieten seine Affären erstmal in Vergessenheit, in der Öffentlichkeit blieb Dewey der Superstar unter den Bibliothekaren, der Begründer der Dewey Decimal Classification und der American Library Association. Erst Wayne A. Wiegand brachte 1996 seine Schattenseiten ans Licht, indem er die gründliche recherchierte und lesenswerte Biografie über Dewey „A irrepressible reformer“ veröffentlichte.

Der 2019 erfolgte Antrag bei der ALA, die Melvil-Dewey-Medaille umzubenennen, war übrigens am Ende erfolgreich. Ab 2021 wird die Auszeichnung unter dem neuen Namen „ALA Medal of Excellence“ verliehen.

=> Wer mehr über Dewey wissen möchte:

Wayne A. Wiegand: Irrepressible reformer: a biography of Melvil Dewey. Chicago and London: American Library Association, 1996.

(Bildnachweis: Wikimedia Commons)

(ag)

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2 Kommentar(e)

NAME |

22. März 2021

Sehr spannend! Dankeschön


John Doe |

15. März 2021

Herzlichen Dank für den (eigentlich schon längst) überfälligen Artikel und den Hinweis auf das Buch, ag!