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Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

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Die Edelsteine (12) - Eine Nachhilfestunde

Avatar of Student/in Student/in | 16. Dezember 2020 | Adventskalender, Lesestoff



Kapitel 12: Eine Nachhilfestunde in Altertumswissenschaft

Nun wurde es brenzlich. Kies hatte das alles nicht gewollt. Sicherlich, sagte sie sich, man musste wohl gegen Josef Ehrlich ermitteln, es stand wohl nicht zur Debatte, dass er IRGENDWAS mit der Entführung zu tun hatte. Nur schmerzte sie viel mehr, dass ihre eigene Kollegin Brecht sie hintergangen hatte bzw. voreilig an den Direktor getratscht hatte, was sie erstmal für sich hätte behalten sollen. Die jetzigen Schritte, mit Verhör und Polizei, wirkten ein wenig überstürzt. Wenn sie nicht klug vorgingen, war Couleuvre womöglich in Gefahr. Und an einem klugen, durchdachten Vorgehen seitens dieser vertrottelten Mannschaft von Polizist Schweinsdorfer und seinem Kommissar Feist hatte sie so ihre Zweifel.

Plötzlich fühlte sich Kies nicht mehr als die, die es in der Hand hatte, den Fall mitaufzuklären. Sie war in die Rolle der Zuschauerin verbannt, und die „Herren“ da oben würfelten mit Schicksalen, ohne dass klar war, wer am Ende gewinnen und wer verlieren würde. Womöglich standen am Schluss alle als Verlierer da.

Sie erfuhr bald, dass das Verhör – es hatte sechs Stunden gedauert – kein Ergebnis geliefert hatte. Josef stritt verzweifelt ab, an der Entführung beteiligt zu sein oder für das Verschwinden des Codex und der anderen Werke verantwortlich zu sein. Dazu, dass er den Schlüsselbund Couleuvres besaß, schwieg er. Kommissar Feist ließ noch am Dienstag Abend sein Haus durchsuchen, seine Frau und sein auswärts lebender 25-jähriger Sohn wurden befragt.

Eine weitere Woche verging, es war schon fast Ende Oktober. Der Mittwoch sollte aufschlussreich werden. Kurz vor Mittag wurde Kies in den Großen Saal gerufen. Neben Kommissar Feist und Direktor Feichtenbeiner war auch ein älterer, beleibter Herr mit weißem Bart und Glatze anwesend. Seine hinter der Nickelbrille funkelnden Augen und sein mildes Lächeln gingen sofort in Richtung Kies, sie den Saal betrat. Sie setzte sich Kommissar Feist gegenüber. Feichtenbeiner, der am Kopf des Tisches platziert war, setzte an:

„Meine geschätzte Kollegin, Herr Kommissar, ich danke Ihnen, dass Sie sich hierher bemüht haben. Ich möchte Ihnen meinen alten Studienfreund (und dabei zeigte er auf den älteren Herrn mit weißem Bart), Herrn Bernhard Pabst, vorstellen. Sie, werte Frau Kies, hatten die glückliche Idee, Herrn Pabst zu benachrichtigen und ihm ein Foto von der zweiten rätselhaften Nachricht des Entführers durchzugeben.“

Pabst selbst führte unmittelbar fort. „Ganz richtig, mein lieber Klaus. Als ich von Ihrem ‚Fall‘ hörte und die kryptische Nachricht sah, machte ich mich sofort an die Arbeit. Ich habe keine Mühe gescheut, besonders weil mir diese altehrwürdige Bibliothek und ihr geschätzter Leiter schon viele Dienste erwiesen haben.

Ich muss anfügen, dass es nicht leicht war, die Schrift zu identifizieren. Anfänglich – das muss ich augenzwinkernd zu geben – schien mir die Aufgabe auch kaum lösbar. Doch die Klarheit, mit der die Bildzeichen aufs Papier gebracht waren und die Ähnlichkeit zu hethitischen Hieroglyphen brachten mich bald auf den rechten Pfad.“

Er ging an ein Whiteboard, das im Großen Saal stand, und zeichnete ein breites V, eine Krone mit zwei Zacken und einen ovalen Schlitz. Die Zuhörenden drehten ihre Köpfe und Stühle, um ihm folgen zu können.

„Auf den ersten Blick sind dies nichtssagende Zeichen. Wenn man aber weiß, dass diese Zeichen sich aus Bildern entwickelt haben, und im Laufe der Zeit auch eine phonetische Bedeutung entwickelt haben, ergeben viele Dinge plötzlich Sinn. Dieses breite V ist eigentlich ein geknickter Zweig, die Krone mit den zwei Zacken stellt eine Berglandschaft dar, und der ovale Schlitz ist ein Auge. Die Zeichen bedeuteten also ursprünglich Zweig, Berge, Auge. Später veränderten sie, wie gesagt, ihre Bedeutung. Sie standen dann für lautliche Ausdrücke, für Silben. Also für so etwas wie „ser“, „mi“, „na“, Teile von Wörtern. Weiß man, hinter welchem Zeichen welche Silbe steckt, kann man bestimmen, um welche Sprache es sich handelt und was die zusammengesetzten Zeichen, die „Wörter“ bedeuten.

Hier setzt die Schwierigkeit ein, denn die Sprache, in der diese Zeichen, diese Nachricht der Entführer geschrieben wurde, ist weder Deutsch noch Englisch noch eine andere gewöhnliche Sprache, die allgemein geläufig ist. Ich erinnerte mich jedoch, dass der erste Zettel, den Sie mir zukommen ließen, reines Altgriechisch war. Das Alphabet, das die Griechen für gewöhnlich benutzten, hatten sie im achten vorchristlichen Jahrhundert von den Phöniziern übernommen, die damals in Syrien und Libanon lebten. Eine Schrift benutzten sie jedoch schon ein halbes Jahrtausend vorher:

Zwischen dem 15. und 12. Jahrhundert gab es auf der griechischen Insel Kreta eine Blüte der Schriftlichkeit. Man beschrieb solche Dinge wie Amulette, die man sich um den Hals hing, und Täfelchen, und zwar mit einer Silbenschrift, die ähnlich wie die ägyptischen Hieroglyphen auf Bildern basiert waren. Lange nahm man an, die Schrift sei etruskisch oder in einer anderen ausgestorbenen Sprache geschrieben. Die Entzifferung gelang erst Anfang der 1950er durch einen Engländer namens Michael Ventris. Er erkannte, dass die Silbenzeichen in eine Art symmetrisches Raster passten. Kombinationen von Konsonanten und Vokalen gingen nach einem jeweils ähnlichen Schema vor sich und produzierten ähnliche Zeichen. Ventris wies auch nach, dass es sich um der Tat um archaisches Griechisch handelte. Gemeinsam mit John Chadwick, ebenfalls Engländer, entzifferte er diese kretische Schrift, die heute als ‚Linear B‘ in der Fachwelt bekannt ist. Nur wenige Monate nach der Entzifferung starb Ventris übrigens im Alter von nur 34 Jahren, aber das ist eine andere Geschichte.“

Pabst machte eine kurze Atempause und trank einen Schluck Wasser. Sein Publikum hielt die Luft an, Direktor Feichtenbeiner wippte ungeduldig von links nach rechts.

„Nun möchten Sie sicher nicht nur wissen, welche Schrift und Sprache hier vorliegt, sondern vor allem, was sie bedeutet. Ich habe hierzu nicht nur meinen eigenen Kopf angestrengt, zahlreiche Literatur konsultiert und, so weit es in der Kürze der Zeit möglich war, mit zwei eminenten Fachspezialisten korrespondiert. Zusammen kommen wir zu folgender Übersetzung.“

Dabei nahm er ein kleines Papier aus seiner Brusttasche und las vor:

„Legt die Bücher am sechsten Tag des nächsten Monats an diesem Ort ab und entfernt euch. Andernfalls wird die Natter sterben.“

Fortsetzung folgt

(ag)

(Bildnachweis: Jebulon, via Wikimedia Commons)

 

 

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