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Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

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Die Edelsteine (10) - Ein zweites Lebenszeichen

Avatar of Student/in Student/in | 14. Dezember 2020 | Adventskalender, Lesestoff



Kapitel 10: Ein zweites Lebenszeichen

Wieder verging ein Wochenende, und je mehr sich Kies in Gedanken vergrub, desto mehr erschien es ihr, als hätte sie sich in einem Wald verlaufen. Die Luft sorgte bald für den typisch winterlichen Kontrast in dem Gebäude. Drinnen kühl, draußen kalt. In dem sanierungsbedürftigen Altbau waren die Fenster undicht.

Zwei Wochen später kam der nächste Paukenschlag per Post. Eine neue Nachricht der Entführer. Eine weitere herausgerissene Seite aus dem Codex Bernensis, was das Herz jedes Bibliothekars bluten ließ. Sodann erneut auf Papier eine rätselhafte Schrift, obschon man gar nicht wusste, ob das eigentlich eine Schrift war. Es war jedenfalls kein Alphabet zu erkennen. Das war nichts Lateinisches, Griechisches, Kyrillisches oder dergleichen. Auch kein Arabisch oder Chinesisch. Eher so ein bisschen wie Hieroglyphen. Viele Zeichen waren miteinander kombinierte Striche, quer, untereinander, kreuzweise…. einige hatten Kreise oder Kurven. Jedoch kein einziges sah genauso aus wie einer der uns bekannten Buchstaben.

Darunter waren zwei Zahlenfolgen genannt:

49.820966, 10.481409

Und darunter wieder drei Signaturen, sehr leserlich in lateinischer Schrift: 18/92 Bot.lat. 22, 18/92 Bot.lat. 23, 18/92 Bot.lat. 24

Außerdem war ein Füllfederhalter beigelegt, den Couleuvre zu benutzen pflegte, als Beweis quasi, dass man ihn immer noch gefangen hielt.

Direktor Feichtenbeiner hatte sich schon zu Wochenbeginn krankgemeldet. Er hatte offiziell eine Erkältung vorgeschoben, aber es schien so, als sei er einer schweren Depression verfallen. Ans Telefon ging er nicht, wenn man versuchte, ihn zu erreichen. So war denn Kies auch auf sich allein gestellt.

Sie versuchte sich an den Namen dieses Paläografen und Altertumskundlers zu erinnern, den alten Studienfreund Feichtenbeiners. Papst, oder so, war das doch? Sie schlug im Kürschner nach. Im Lesesaal stand noch so eine Dinosaurier-Ausgabe, schon fünfzehn Jahre alt. Eine Lizenzierung der Online-Ausgabe mochte man sich nicht leisten. Das Wort „E-Medien“ oder „E-Ressource“ war für manche hier doch noch ein Fremdwort.

Glücklicherweise wurde Kies fündig. Pabst, Bernhard, Jahrgang 1953. Professor in München. Hatte publiziert zu römischen Wachstäfelchen, Kosmogonie, der griechischen Überlieferung von Homer, und so einigem mehr. Die Telefonnummer des Instituts stand daneben.

Sie telefonierte mit der Sekretärin, machte ein Foto von dem Zettel und schickte es an die durchgegebene E-Mail-Adresse. Jetzt musste sie die eventuelle Antwort abwarten. Sie ärgerte sich ein wenig. Andere Leute hätten nie im Kürschner nachgesehen, sondern gleich gegoogelt, und wären zum gleichen Ergebnis gekommen.

Was die Signaturen auf dem Zettel anbelangte, wollte sie sofort nachsehen, ob sie ebenfalls aus dem Magazin verschwunden worden waren. Sie holte sich einen der Magazinschlüssel, die in einem Gemeinschaftskästchen verwahrt wurden, und machte sich auf in den Westflügel.

Bot.lat. 22, 23 und 24. Das waren wieder botanische Werke von zwischen 1600 und 1750. Das Magazin schien leer, Kies hörte und sah niemanden, als sie durch die Gänge schritt. Schließlich kam sie am Regal an. Bot.lat. 22… 23… 24. Die Bände standen im Regal. Kies schaute nochmal auf den Zettel, überprüfte die Angaben, blickte zurück zum Regal, besah die Signaturen und die Bände. Nein, das stimmte schon. Die Bände waren hier, vor ihren Augen. Hatte sich der Schreiber vertan bei der Signaturangabe ? Sie schaute links und rechts. Abgesehen von der Nr. 39, die im ersten „Entführer-Brief“ erwähnt war und die schon als abgängig festgestellt worden war, fehlte kein Band.

Was wollte ihr die Nachricht sagen? Sie griff alle drei Bände heraus, blätterte jeden einzeln durch. Vielleicht war in einem der Bücher selbst ein Indiz versteckt. Eine halbe Stunde verbrachte sie damit, die auf dem Boden aufgeschlagenen Werke durchzusehen. Doch da war nichts. Keine eingelegten Zettel oder Hinweise. Sie stellte einen Repräsentant ein und nahm die drei dicken Foliobände runter mit in ihr Büro. Vielleicht konnte sie diese später nochmals durchsehen.

Sie ging dieses Mal nicht zurück zur Treppe, sondern weiter zum Aufzug. Die Foliobände waren ja doch etwas schwer. Als sie am Tresorraum vorbeiging, fiel ihr Blick auf ein Regal neben der Tür. Da lag ein Schlüsselbund. Sie erinnerte sich plötzlich. Als sie die Truhe bewegen wollten, in der der Codex Bernensis sonst lagerte, musste Josef mit anpacken und hatte seinen Schlüsselbund hier abgelegt. Er hatte ihn wohl liegen lassen, einfach vergessen wieder mitzunehmen.

Kies nahm den Schlüsselbund an sich. Und da musste sie innehalten. Als Direktor Feichtenbeiner ohnmächtig geworden war, hatten sie ihn über die Treppe in sein Büro getragen. Es war Josef, der hinter ihnen das Magazin absperrte. Doch wie konnte er das Magazin absperren, wenn seine Schlüssel doch hier auf dem Regal lagen?

Kies nahm einen der Schlüssel, der etwas anders aussah, etwas klobiger und größer. Sie probierte damit die Tür des Tresorraums. Er passte.

Fortsetzung folgt

(ag)

(Bildnachweis: vintagedept, via Wikimedia Commons, nachbearbeitet)

 

 

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