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Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

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Die Edelsteine (3) - Wie man an eine Tageszeitung kommt

Avatar of Student/in Student/in | 03. Dezember 2020 | Adventskalender, Lesestoff



Kapitel 3: Wie man an eine Tageszeitung kommt

Auch der nächste Tag, ein Freitag, und das darauffolgende Wochenende blieben ohne Lebenszeichen Couleuvres. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Krankmeldung oder dergleichen. Kies‘ Vorahnung sollte sich also bestätigen. Allein Direktor Feichtenbeiner versuchte mehrmals, Couleuvre telefonisch zu erreichen.

Schon Freitag Mittag hatte er die Geduld verloren. Als er Julia Kies auf der Treppe traf, schnaubte er: „Eineinhalb Tage und immer noch nichts! Ich verstehe nicht, was das soll.“

Kies unterbrach ihn höflich: „Herr Direktor… vielleicht ist es ja auch gar nicht Herr Couleuvre, der schuld daran hat, dass er sich selbst nicht meldet.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Nun ja, vielleicht hatte er ja einen Unfall.“

Direktor Feichtenbeiner riss die Augen auf. Natürlich, das war nicht von der Hand zu weisen. Es würde einiges erklären. Feichtenbeiners Gesicht nahm plötzlich wieder väterlich-milde Züge voller Sorge an. Eine Sekunde verschnaufte er, bevor er knapp erwiderte:

„Telefonieren Sie alle Krankenhäuser der näheren Umgebung ab. Schauen Sie außerdem die Lokalzeitungen der letzten drei Tage durch, ob sich irgendwo Artikel über Verkehrsunfälle mit Personenschäden finden.“

Die Anrufe, die Kies anschließend tätigte, hatten ein überschaubares Ergebnis. In den Krankenhäusern, die antworteten, lag kein verletzter oder schwerkranker Matthias Couleuvre. In zwei Fällen verwies man auch knapp darauf, dass es Freitag Nachmittag sei. Womit wohl alles gesagt war. Dass das Beamtendenken, das sie bislang vor allem aus der Korrespondenz mit anderen Bibliotheken kannte, nun auch bis in die Krankenhäuser vorgedrungen war, schockierte sie halb und halb eigentlich gar nicht.

Was die Durchforstung der Tageszeitungen anging, war es ein schwierigeres Unterfangen. Zwar hatte die Bibliothek die gängigen zwei Lokalzeitungen abonniert, die aktuelle Ausgabe des örtlichen „Tagblatts“ war aber just in diesem Moment von der „Alten“ in Beschlag genommen.

Die „Alte“ hieß eigentlich Geller, aber hinter ihrem Rücken nannte man sie die „Alte“. Die Frau war selbsternannte „Heimat- und Heraldikforscherin“ und fast jeden Tag hier anzutreffen, weniger um Heimat- und Heraldikforschung nachzugehen, als vielmehr die in der Bibliothek ausliegenden aktuellen Tageszeitungen stundenlang durchzublättern. Andere Nutzer hatten da kaum eine Chance. Auch Kies würde es schwer haben, ihr die heutige Ausgabe abzuluchsen. Doch sie hatte sich ein Manöver überlegt.

Nachdem sie Lena eingeweiht hatte, begaben sich beide unauffällig in die Nähe des Platzes, wo sich die „Alte“ niedergelassen hatte. Lena stellte dabei ein paar Bücher zurück.

„Lena, sag mal, hast du auf dem Besucherparkplatz geparkt?“

„Nein, Frau Kies, wieso?“

„Ach nichts. Dann betrifft dich das eh nicht.“

„Was denn?“

„Ach… irgendein Wagen wird da grade abgeschleppt.“

Die „Alte“ zuckte zum ersten Mal zusammen und lauschte.

„Was ist es denn für ein Wagen? Vielleicht gehört er jemandem aus der Belegschaft.“

„Oh, so genau hab ich nicht hingesehen. Ich glaub, es war ein Peugeot oder Citroen.“

Die Körperzüge der „Alten“ versteiften sich.

„Ich glaub, er war silbern.“

Damit war die Falle ausgelegt. Die „Alte“ sprang auf und stürzte hinaus Richtung Treppe. Die zwei Minuten genügten Kies, um das auf dem Platz liegengebliebene „Tagblatt“ durchzusehen. Keine Meldung eines Verkehrsunfalls. Als die „Alte“ wieder reinkam, waren Lena und Kies schon wieder hinter der Theke im Eingangsbereich. Die Alte warf ihnen einen Blick zu, der töten könnte. Kies, mit dem Rücken zu ihr, konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Fortsetzung folgt

(Bildnachweis: Andrys, via Pixabay)

(ag)

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2 Kommentar(e)

Bibliothekar |

10. Dezember 2020

Ein schönes Manöver. :-) Wer kennt sie nicht, diese liebenswürdigen Nutzerinnen und Nutzer mit den etwas spezielleren Verhaltensweisen...


Studentin |

03. Dezember 2020

Echt gut geschrieben!