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Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

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Die Edelsteine (2) - Wer ist Matthias Couleuvre?

Avatar of Student/in Student/in | 02. Dezember 2020 | Adventskalender, Lesestoff



Bis Weihnachten präsentieren wir von Montag bis Freitag an dieser Stelle eine neue Folge unseres bibliothekarischen Weihnachtskrimis "Die Edelsteine". Im Mittelpunkt: eine Regionalbibliothek und das geheimnisvolle Verschwinden eines Bibliothekars...


Kapitel 2: Wer ist Matthias Couleuvre?

Direktor Feichtenbeiners Suche im Magazin sollte erfolglos bleiben, auch hier fand er den vermissten Couleuvre nicht vor. Er irrte durch die verwinkelten Räume, vollgestellt mit Regalen, und jene wiederum vollgestellt mit Druckerzeugnissen der vergangenen fünf Jahrhunderte, manche davon mehr, viele auch weniger wertvoll.

Insgesamt konnte sich die Sammlung für eine Regionalbibliothek aber sehen lassen. Zahlreiche Persönlichkeiten der näheren Umgebung oder andere mit dem Ort verbundene Personen hatten der Bibliothek ihre Privatbibliotheken und anderes vermacht. So dass es auch Bestand besonders zwischen 1550 und 1750 gab, der nirgendwo anders nachgewiesen war, und für den Forscher extra anreisten.

Feichtenbeiner traf ebenso auf Reiselektüre aus dem 19. Jahrhundert wie auf erzkatholische Streitschriften gegen den Protestantismus aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, nebst französischen Theaterstücken der Aufklärung. Nur Couleuvre, den konnte er nirgendwo entdecken zwischen den abwechselnden Schichten aus Holz, Papier, Karton, Leder, Tinte, Staub und Fett.

Am Ende eines weiten Ganges erblickte er Josef, einen der Magaziner. Er bückte sich gerade schreibend über ein Tischchen. Als er den Direktor herannahen sah, änderte sich seine Haltung schlagartig. Er schien einen kleinen Gegenstand mit einem leise metallisch rasselndem Geräusch eilig in seiner Hosentasche verschwinden zu lassen, wobei er sich gleichzeitig aufrichtete.

„Josef“, schnappatmete Feichtenbeiner. „Sie haben hier drinnen nicht Herrn Couleuvre gesehen?“

„Nein, Herr Direktor. Ich glaube, er war heute noch nicht hier.“

Feichtenbeiner bemerkte Josefs erschrockenen Gesichtsausdruck.

„Was heißt, Sie glauben? War er heute hier oder nicht?“

„Nein.“ Nach einer Pause fügte er hinzu. „Ich habe ihn auch sonst nirgends im Gebäude gesehen, Herr Direktor.“

„Gut. Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn er hier auftauchen sollte.“

„Jawohl. Das mache ich.“

Feichtenbeiner verlies das Magazin und den in Schweiß gebadeten Josef. Auch die nochmalige Suche in Couleuvres Büro, im Lesesaal, auf Fluren und Treppen blieb ohne Ergebnis. Niemand der Angestellten hatte den Bibliothekar an diesem Tage gesehen. Zurückgekehrt in sein eigenes Büro, ließ sich der Direktor auf die Ledercouch fallen und breitete die Arme aus, als ob er beide Enden der Couch damit erreichen wolle.

Matthias Couleuvre, 36 Jahre, war erst vor einem Jahr in den Dienst der Regionalbibliothek getreten. Sein Aufstieg war kometenhaft. Der gebürtige Schweizer hatte in Zürich und Berlin Mediaevistik, lateinische und griechische Philologie studiert und mit Bestnote abgeschlossen. Eine ebenso summa cum laude vollzogene Promotion über die Ottheinrich-Bibel eröffnete ihm viele Möglichkeiten. Couleuvre entschied sich rasch, in den höheren Bibliotheksdienst zu treten, und war nach einem kurzen Aufenthalt in Wolfenbüttel an die Regionalbibliothek B. gewechselt, wo er nun als Hauptaufgabe die Handschriften, Rara und alten Drucke betreute. Er konnte ebenso gut mittelfranzösische Gedichte entziffern wie arabische Codices und altgriechische Papyri. Wer mit ihm redete, glaubte bald einen Archäologen, bald einen Indogermanisten, einen Paleograf oder einen Archivar, in jedem Fall aber ein Genie vor sich zu haben. Jemand von seinem Kaliber für den Posten gewonnen zu haben war schlicht ein Glücksfall. Zu schlecht bezahlt war die Stelle im Vergleich zu dem, was einen an größeren Häusern erwarten konnte, doch Couleuvre schien ganz in seinem Amt aufzugehen.

Fleißig und gewissenhaft opferte er jede freie Minute und viele Überstunden der Sammlung, ordnete um, berichtigte den Katalog, ließ Einbände reparieren, telefonierte mit Spezialisten aus ganz Europa, um Licht ins Dunkel der einen oder anderen Handschrift zu bringen. Und gab bereitwillig jedem Nutzer Auskunft, der mit spezielleren Anfragen an die Bibliothek herantrat. Magaziner Josef ächzte unter der Last an Büchern, die er ihm jeden Tag bringen und wieder fortschaffen musste. In der täglichen Post fanden sich oft Aufsätze, die er sich von Dokumentlieferdiensten schicken ließ, und die ihm Bibliothekarin Kies an den Schreibtisch brachte. Nicht zuletzt publizierte er mehrere Artikel in bibliothekarischen Fachzeitschriften, was der Sammlung auch über die Region hinaus im Bewusstsein der Fachcommunity Bekanntheit verschaffte.

Er war prädestiniert dafür, Feichtenbeiners Nachfolger zu werden. Daher behandelte der „alte“ den wohl zukünftigen Direktor auf Augenhöhe. Ja, manchmal schien es sogar so, als blicke Feichtenbeiner zu ihm auf. Fragte ihn ab und an schon mal um seine Meinung, wenn er sich selbst nicht ganz sicher war bei einer größeren oder kleineren Entscheidung, und vertraute seiner Antwort immer, ohne dass er es zeigen wollte.

Nun wollte Feichtenbeiner eigentlich keine große Sache daraus machen, dass Couleuvre augenscheinlich heute nicht zur Arbeit erschienen war. Sicherlich gab es dafür wichtige Gründe. Er erinnerte sich, dass Couleuvre gerade vorher zwei Tage Urlaub genommen hatte. Ob der vielen Überstunden und seines Fleißes waren sie ihm herzlich gegönnt. Die einfachste Erklärung blieb aber immer noch eine Erkältung bzw. sonstige Krankheit, die ihn einfach hinderte, zu erscheinen.

Feichtenbeiner nahm das Telefon in die Hand und wählte die Durchwahl der Sekretärin. Zu seinem Erstaunen ging Frau Kies an den Apparat.

„Äh…eigentlich sollte doch Frau Tippelsin…“

„Ist im Urlaub, Herr Direktor. Schon seit einer Woche. Ich dachte, das wüssten Sie.“

„Jaja“, murrte Feichtenbeiner. „Selbstverständlich weiß ich das. Haben Sie das Telefon den ganzen Tag besetzt? Herr Couleuvre hat sich doch sicherlich bei Ihnen krankgemeldet.“

„Nein, Herr Couleuvre hat heute nicht angerufen.“

Es folgte ein verbissenes Hin und Her verbunden mit kaum versteckten Anschuldigungen, ob Frau Kies wirklich den ganzen Tag und auch sämtliche Anrufe des Sekretariats entgegengenommen hatte, ob sie nicht etwa einmal ein Klingeln überhört hätte, oder ob sie etwa nicht ins E-Mail-Postfach gesehen habe.

„Ach ich weiß, Frau Kies, Sie waren zu Tisch und im Jour Fixe. Währenddessen hat Couleuvre angerufen und niemanden erreicht. Jetzt ist es Ihre Schuld, dass wir nicht wissen, wann er wiederkommt.“

„…aber ich habe das Telefon…“

„Sie brauchen gar nichts mehr zu sagen, ich weiß schon. Ich werde Couleuvre selber anrufen und ihm bei der Gelegenheit auch gute Besserung wünschen.“

„…aber…“

Feichtenbeiner hatte aufgelegt. Dabei hätte ihm Julia Kies sagen können, dass sie selber zweimal versucht hatte, Couleuvre telefonisch zu erreichen. Auch eine E-Mail hatte sie ihm hinterhergeschrieben. Krank gemeldet hatte er sich jedenfalls nicht, das konnte Kies eigentlich ohne jeden Zweifel behaupten. Seit acht Uhr morgens war sie da gewesen, und bei jedem Gang aus dem Büro, und sei es nur zur Toilette, hatte sie das Telefon auf FaMI Lena umgestellt und sie danach jedes Mal gefragt, ob jemand angerufen habe. Auf Lena ließ sie nichts kommen, der vertraute sie blind.

Nun allmählich fragte sie sich aber auch, was denn nun mit Herrn Couleuvre eigentlich los war. Auch sie kannte ihn als stets pflichtbewusst, perfekt organisiert und rasch in der Kommunikation. Zumindest in diesem Punkt – der allgemeinen Verwunderung – war sie sich mit Direktor Feichtenbeiner einig.

Für heute – es war kurz nach vier – war Kies schon geistig im Feierabend, und sie beschloss, aus dem geistigen auch einen physischen Feierabend zu machen. Die ganze Angelegenheit würde sich sicher morgen klären, sagte sie sich, obwohl sie eigentlich nicht wirklich davon überzeugt war. Eine komische Intuition, das seltsame Verhalten Josefs, als sie ihn auf Couleuvre ansprach, das Fehlen jeglicher Nachricht von Couleuvre, all das erschien ihr wie die einzelnen Details einer klassischen Tragödie, die durch ihr scheinbar zufälliges Zusammentreffen deterministisch in die Katastrophe führten.

Fortsetzung folgt

(ag)

(Bildnachweis: Orischak, via Pixabay)

 

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1 Kommentar(e)

Hart arbeitender Bibliothekar |

02. Dezember 2020

Für eines sind die Masken gut - so bemerkt niemand, dass ich hier breit grinsend im Lesesaal sitze. :D

 

Ganz großartig geschrieben und tolle Idee!!