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Präsidiale Mahngebühren

Avatar of Student/in Student/in | 06. Dezember 2020 | Bibliotheken | International



George Washington

Wir schreiben den 5. Oktober des Jahres 1789. Eine aufgebrachte Menge Pariser Marktfrauen zieht nach Versailles und zwingt König Ludwig XVI., die Brotpreise zu senken und die Lebensmittelversorgung von Paris sicherzustellen. Von Ludwigs nicht ganz freiwilliger Geberlaune angespornt, bringen ihn die unbeugsamen Gallierinnen dann prompt auch noch dazu, die kürzlich von der Nationalversammlung verabschiedete Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu unterzeichnen. Wenn man schon mal da ist… Und weil sich Ludwig so nett und kooperativ zeigt, nehmen ihn die Marktfrauen am nächsten Morgen samt Familie auch gleich noch mit ins revolutionäre Paris, um ihn künftig immer griffbereit zu haben. Die Französische Revolution hatte mit dem 5. Oktober 1789 ihren nächsten Höhepunkt erreicht.

Von all dem konnte George Washington selbstverständlich nichts wissen, als er sich in seinem New Yorker Büro auf diplomatische Gespräche mit Vertretern des britischen Königshauses vorbereitete. Zu diesem Zweck hatte sich der nur wenige Monate zuvor gewählte US-Präsident just an diesem 5. Oktober 1789 zwei Bücher aus der New York Society Library entliehen. Es handelte sich um das Standardwerk The Law Of Nations des Völkerrechtlers Emer de Vattel sowie Band 12 aus den 14-bändigen British House of Commons Debates. In den Verzeichnissen der Bibliothek wurde als Name des Entleihers lapidar „president“ vermerkt.

Eine Verwechslung mit anderen Nutzern war schließlich auch kaum zu befürchten. Dies nicht nur, weil George Washington als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ein wahrlich maximal exklusives Amt bekleidete. Sondern auch, weil die Nutzerzahl der Bibliothek noch sehr überschaubar war. Die New York Society Library als älteste Bibliothek der damaligen amerikanischen Hauptstadt verfügte in diesen Jahren über etwa 230 registrierte Benutzer. Viele davon waren Mitglieder der Regierung oder des Kongresses, die beide praktischerweise im gleichen Gebäude wie die Bibliothek untergebracht waren. Die New York Society Library fungierte somit de facto auch als erste Library of Congress, obwohl sie diesen Titel nie offiziell getragen hat.

Wie ausgiebig George Washington die Bibliothek nutzte, ist nicht überliefert. Die Folgen seines Besuchs vom 5. Oktober 1789 jedoch sehr wohl. Denn die vierwöchige Leihfrist für beide Bücher verstrich, ohne dass diese ihren Weg zurück in die Bibliothek gefunden hätten. Es verstrichen sogar beinahe 221 Jahre, bis die Bibliothek zumindest eines ihrer Bücher wieder in Händen halten konnte. Was war passiert?

Es sind keinerlei Hinweise erhalten, ob der Präsident jemals auf seine überfälligen Bücher aufmerksam gemacht wurde. Ebenfalls ist nicht bekannt, ob seitens der Bibliothek jemals Mahngebühren eingefordert wurden. Das Verzeichnis, in dem die entliehenen Bücher vermerkt waren, wurde 1792 durch einen neuen Band ersetzt und geriet selbst in Vergessenheit. Nur aus purem Zufall wurde es 1934 auf einem Müllberg im Keller der Bibliothek wiederentdeckt und in letzter Sekunde vor der Entsorgung gerettet. Eine Überprüfung ergab, dass unter anderem auch die von George Washington entliehenen Bücher im Bestand fehlten. Jedoch konnte niemand sicher sagen, ob diese niemals zurückgegeben oder in den letzten über 130 Jahren erneut anderweitig abhandengekommen waren. Daher behielten die Bibliothekare ihr Wissen lieber für sich und es wuchs erneut viel Gras über die Angelegenheit.

Erst weitere 76 Jahre später, als die New York Society Library im April 2010 die alten Ausleihverzeichnisse für die Digitalisierung vorbereitete, kam die Geschichte über die vermissten Bücher wieder ans Tageslicht. Eine erneute Bestandsüberprüfung lieferte dasselbe Ergebnis – die fraglichen Bücher fehlten. Doch anders als 1934 konnten nun die restlichen 13 Bände der British House Of Commons Debates ausfindig gemacht werden. Nur der von George Washington entliehene Band 12 war nicht vorhanden. Aus einer vagen Vermutung wurde somit schnell wieder ein sehr konkreter Verdacht: George Washington hatte die beiden entliehenen Bücher niemals zurückgegeben. Und ebenfalls anders als 1934 erfuhr durch einen Artikel der New York Daily News diesmal auch die amerikanische Öffentlichkeit von der Schlamperei ihres ersten Präsidenten. Die fälligen Mahngebühren, die 1789 noch bei etwa zwei Cent pro Tag gelegen hatten, summierten sich inzwischen auf angeblich nicht weniger als rund 300.000 Dollar - inflationsbereinigt versteht sich.

Dies konnten wiederum die Mitarbeiter in Mount Vernon, dem ehemaligen Landsitz George Washingtons, nicht auf dem Präsidenten sitzen lassen. Und so wurde die Suche nach den vermissten Büchern nun in den Beständen des dortigen Museums fortgesetzt. Doch man ahnt es bereits. Auch diesmal blieben die beiden Bände wie vom Erdboden verschluckt. Der letzte Ausweg war wie so oft auch in diesem Fall das Internet. Für 12.000 Dollar konnten die Mitarbeiter von Mount Vernon immerhin eine identische Ausgabe von Emer de Vattels The Law of Nations erwerben und überreichten diese im Mai 2010 feierlich an die New York Society Library. Diese verzichtete im Gegenzug auf sämtliche Mahngebühren und Ansprüche auf den weiteren fehlenden Band. Mount Vernons Executive Director James Rees dankte mit den Worten "We express our gratitude for your patience... and for your generosity in erasing the considerable funds that were probably owed by George Washington […] He did not do his public duty."[1]

Selbstverständlich wurde diese Geschichte auch von vielen amerikanischen Medien dankbar aufgenommen und weiterverbreitet. Das Comedyformat adult swim hat George Washingtons überfälligen Ausleihen sogar einen Kurzfilm gewidmet (in dem unsere Zunft jedoch nicht sehr vorteilhaft wegkommt…).

Und was hat dies nun alles mit der Französischen Revolution zu tun? Eigentlich nichts. Jedoch hätte es sicher nicht geschadet, wenn am 5. Oktober 1789 nicht nur Ludwig XVI. seine Rechte und Pflichten gegenüber dem französischen Volk vor Augen geführt, sondern auch George Washington etwas eindringlicher an seine Pflichten als Nutzer der New York Society Library erinnert worden wäre.

(jb)

 


[1] https://theweek.com/articles/494173/george-washingtons-221year-overdue-library-book-timeline (4.12.2020).

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