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Hier berichten wir von den großen und kleinen Erlebnissen unserer Ausbildungsreise – von Exkursionen in alte und neue Bibliotheken, von Studienfahrten und Praktika in fernen und nicht ganz so fernen Städten, von Vorträgen, Konferenzen und natürlich dem Studienleben in München.

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Die Edelsteine (4) - Oktober

Avatar of Student/in Student/in | 04. Dezember 2020 | Adventskalender, Lesestoff



Kapitel 4: Oktober

Das Wochenende brachte einen herben Temperatursturz mit sich. Mit einem Schlag schien der Vollherbst sich ganz zu entfalten. Stürmische Winde wirbelten die Blätter von den Bäumen, ergiebiger Regen drückte sie zu Boden. Auch in Kies‘ kleinem Vorgarten sammelte sich ein bunter, rutschiger Teppich aus Blättern.

Julia Kies, 38, war eine Frau schlanker Statur. Sie trug ihr braunes Haar kurz, ihre dunklen Augen schienen so tief wie ein Ozean zu sein. Zumindest glaubte jeder, der sie sah, an Hand der Augen ihr einen etwas mysteriösen Charakter zuschreiben zu können. Sich selbst fand Kies natürlich nicht im Geringsten mysteriös.

Leicht gehabt hatte sie es nicht im Leben. Aufgewachsen in einer kleinen Gastwirtschaft etwa 20 Kilometer von hier entfernt, ging sie schon sehr früh ihren Eltern zur Hand. Wusch Teller im Wirtshaus ab, half mit, die Zimmer der wenigen Gäste, die hier abstiegen, zu reinigen. Allerdings lernte sie so schon früh, man würde heute sagen: „serviceorientiert“ zu denken. Und eine eiserne Disziplin aufzubauen. Beides sollten ihr in ihrem späteren Beruf als Bibliothekarin große Dienste erweisen. Probleme packte sie pragmatisch und selbstsicher an, sie wusste immer, was sie tat.

Ihr Vater starb an Krebs, als sie 14 war. Ihre Mutter konnte die Wirtschaft alleine nicht mehr stemmen, das Haus musste schließen. Doch gleichzeitig versuchte sie, der Tochter den zeitlichen Freiraum zu geben, den sie benötigte, um ein gutes Abi hinzulegen. Nach einem ersten abgebrochenen Germanistikstudium orientierte sie sich neu, schaffte es schließlich im Süden der Republik an eine Bibliothekarsschule der Staatsbibliothek, wo sie nach drei Jahren Studium mit Traumnoten bestand. Ihr Abschluss ebnete den Weg. Ein paar Jahre Katalogisierung an einer Unibibliothek, später ein Jahr in England, wo sie erst erfuhr, wie man eine Bibliothek als modernen Lehr- und Lernort konzipieren konnte. Von da an hatte sie Blut geleckt. Ihre Rückkehr in die Heimatregion, an die kleine Regionalbibliothek, ergab sich eigentlich eher zufällig. Doch wusste sie schon am ersten Tag, was sie hier wollte: Vieles verändern. Dass es im Privaten nicht so gut lief wie im Beruflichen, wischte sie einfach weg. Schließlich ging es nicht wenigen Bibliothekarinnen so.

Diesen Sonntag hatte sie vor, ein wenig aufzuräumen, oder zumindest einige der Umzugskartons auszuräumen, die seit der Scheidung vor einem Jahr in einem Kämmerchen der nun neuen Wohnung vor sich hin rotteten. Doch Kies kam nicht umhin, den prasselnden Dauerregen vorm Fenster zu betrachten. Sie machte sich einen Tee, setzte sich in den Sessel und blickte hinaus.

Dieser ganze Wirbel um ihren abgetauchten Kollegen hatte auch ihre Gedanken etwas durcheinander gebracht. Warum war er immer noch verschwunden, seit drei Tagen. Wenn er wirklich wollte, warum hatte er kein Lebenszeichen von sich gegeben? Wäre er erkrankt oder hätte ein unerwarteter Vorfall – etwa in der Familie – sein Erscheinen verhindert, hätte er es wissen lassen. Wäre er verletzt, hätte ihn sicher schon jemand gefunden und umsorgt, und damit wäre es unvermeidlich gewesen, dass auch die Bibliothek in kurzer Zeit Bescheid wüsste. Oder hatte er sich selbst etwas angetan?

Sie versuchte, sich für diese These zu öffnen. Ein Suizid…? Nun schätzte sie ihn eigentlich nicht als selbstmordgefährdet ein. Nein, nichts von dem oberflächlichen Eindruck, den sie in der Zusammenarbeit mit ihm gewonnen hatte, wies auf eine Depression oder dergleichen hin. Andererseits waren viele Männer unberechenbar, auch in ihren Emotionen. Und nicht schlecht darin, eine kühle Fassade zu wahren, auch wenn es im Inneren kochte. Das hatte man ihnen so anerzogen. In Kies‘ Gesellschaft des 21. Jahrhunderts war es immer noch so, dass man Jungen beibrachte, stark zu sein und nicht zu weinen. Was ein positives Selbstverständnis genauso wie spätere Neurosen bzw. psychischen Druck hervorbringen konnte. Natürlich gab es auch Gegenbeispiele, das wollte sie nicht verschweigen. Aber manche Familien waren eben „konservativer“ in ihrem Weltbild.

Im Endeffekt brachte sie der Gedankengang mit der Suizid-These nicht weiter. Zumindest nicht, so lange niemand bei Couleuvre zuhause „nachgesehen“ hätte, ob er denn dort an einer Lampe aufgehängt von der Decke hinge.

Da war noch eine andere Irritation in ihren Gedanken. Josef, der Magaziner. Warum war der plötzlich so aufgeregt gewesen, als ihn Kies am Donnerstag auf Couleuvre ansprach? Warum hatte er geschwitzt und gestammelt, als er erklärte, er habe ihn an diesem Tag nicht im Magazin gesehen? Kies wollte hier nicht an einen Zufall glauben. Josef musste irgendetwas mit dem „Fall“ zu tun haben. Oder zumindest wusste der Mann mehr, als er zugeben wollte.

Was sollte Kies tun? Ihn in Kreuzverhör nehmen? Dafür fehlten ihr gewichtige Argumente oder Tatsachen. Sie konnte niemanden zur Rede stellen, der zumindest nicht offensichtlich etwas mit dem Verschwinden zu tun hatte. Ihre Vermutungen reichten hier nicht aus. Zudem würde Josef, hätte er wirklich damit etwas zu tun, jegliche Verbindung abstreiten, und damit wäre sie wieder an einem toten Punkt.

Sie sah ein, dass sie abwarten musste, bis die Indizien auftauchten, die ihr die Möglichkeit gaben, gezielt vorzugehen. Für den Moment war sie dazu verdammt, wie ein Angler ohne Köder eine leere Rute ins Wasser zu hängen, und wachsam zu sein. Sie würde den Fisch schon noch fangen, aber noch bevor sie wusste, was für ein Fisch es war, musste sie sich überlegen, welches der richtige Köder war und an welcher Stelle der Fisch auftauchen musste. Ewig warten konnte sie aber nicht.

Kies fasste einen Entschluss. Am Montag Morgen, als sie Direktor Feichtenbeiner sah, wie er gerade den Haupteingang der Bibliothek betrat, stellte sie sich ihm in den Weg und sagte: „Herr Direktor. Steigen Sie in meinen Wagen. Wir fahren zu Couleuvres Wohnung.“

Fortsetzung folgt

(ag)

(Bildnachweis: Cbaile19, via Wikimedia Commons)

 

 

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1 Kommentar(e)

Hmpf |

10. Dezember 2020

"Andererseits waren viele Männer unberechenbar, auch in ihren Emotionen." Sexismus in einem Bibliothekskrimi? Wie schade...